Liebestod

Wenn der Stadtschamane nicht im Dienst war, konnte man ihn gewöhnlich finden – falls man wusste, wo er zu suchen war: in seiner kleinen Hütte am Stadtrand, dort wo der Wald beginnt.

Dort besuchte ich ihn und bekam immer einen heißen Tee angeboten – mit einem Schuss Whiskey in kalten, stürmischen Nächten.

Ich weiß jetzt, dass ich zu Beginn unserer Freundschaft für seinen Geschmack zu viel geredet habe. Aber er war immer sehr nachsichtig mit mir… Später, als ich gelernt hatte zu entspannen, saßen wir oft stundenlang schweigend vor dem Feuer und beobachteten die Flammen und lauschten dem Wind. 

Der Stadtschamane hatte viele ungewöhnliche Ideen. Manchmal sagte er scherzend, dass die beiden größten Übel der Menschheit die Schuhe seien (ein Paar Schuhe sind zwei Übel). Oft gab es in seiner Hütte auffallend viele Spinnen. Er sagte, dass er mit ihnen ein Abkommen geschlossen hätte: Sie sollten sein Essen, sein Bett und seinen Tisch nicht berühren. Als Gegenleistung überließ er ihnen das übrige Zimmer. Irgendwie klappte es.

Er liebte es wirklich, Geschichten zu erzählen. Er erzählte mir, dass er eine Geschichte erfinden wolle, die die mystische Imagination im postmodernen Menschen wiedererwecken könne. Das zentrale Element dieser Geschichte sei der Liebestod. Ich hatte nie davon gehört, also bat ich ihn, mir davon zu erzählen.

Er sagte: „Liebestod ist das tiefste Geheimnis, das wir Menschen miteinander teilen. Jeder möchte die Welt retten. Aber wir definieren die Welt oft als unsere individuelle Identität.

Der normale Antrieb in unserem Leben ist die Suche nach individueller Erfüllung. Aber unser tiefstes Motiv sollte sein, als Individuum erlöst zu werden. Die Sehnsucht nach Erfüllung ist der Wunsch zu leben. Die Sehnsucht nach Erlösung ist der Wunsch zu sterben: Der Wunsch zu leben und der Wunsch zu sterben ergänzen sich, weil jeder Mensch sich im Geheimen wünscht, von der Liebe beherrscht zu werden. Wir werden von der Liebe beherrscht, wenn wir bewusst den Liebestod sterben …“